Schlichtsein

Das Holz des Tisches anfühlen, die Kühle des Zimmers spüren. Mit einem Tee in der Hand über den knarzenden Boden schlurfen. Den Stuhl vorsichtig zurückziehen. Die Tasse abstellen, das Tagesgeschehen ein paar Augenblicke ruhen lassen.

Sie nimmt einen tiefen Atemzug. Welcher Tag ist heute? Ah, Montag. Stimmt. Seit sie nicht mehr jeden Tag ins Büro fährt, verschwimmt die Zeit. Geräuschlos kommen die Tage und die Nächte. Gertrud blickt auf den Blumenstrauß, der auf dem Tisch steht. Er hat sich gut gehalten. Jeden Freitag holt sie einen neuen, ein geliebtes Ritual seit vielen Jahren. Sie weiß nicht mehr, wann es angefangen hat. In einer dieser bunten, seelenverwöhnenden Illustrierten hatte sie das in einem Interview gelesen. Wer das war, hatte sie vergessen. Aber dass die Frau sich jede Woche Farben und Duft auf den Küchentisch holt, gefiel ihr. Seither tut sie es auch. Die Vase ist immer die gleiche, egal welche Farben die Blumen haben. Es ist ihr egal, ob es optisch zusammenpasst. Das mit dem „zusammenpassen“ ist ohnehin relativ, findet sie. Es fügt sich oder eben nicht. Dass manche Menschen da so viel Tamtam drum machen, konnte sie noch nie verstehen. Die Tasse ist warm, Gertrud kann ihre Finger um sie schlingen. Das hat sie es schon als 19-Jährige getan und kam sich sehr bedeutend dabei vor. Ja. Dieses Bild kommt ihr deutlich vor Augen. Wie sie damals in Bremen allein in der kleinen Wohnung stand. Mit einem Gefühl des Angekommenseins bei sich. Ach, hätte sie damals gewusst, welche Entscheidungen und Anstrengungen noch vor ihr liegen. Es kommt ihr merkwürdig vor, dass einige Menschen immer in die Zukunft schauen wollen. Gertrud trinkt einen Schluck, während sie weiter vor sich hindenkt. Nein, mit den meisten Menschen konnte sie nichts anfangen. Nicht damals und jetzt auch nicht. Dieses aufgeregte Getue um, ja was eigentlich. Eigentlich um nichts. Am Ende geschehen die Dinge einfach und ohnehin und meistens anders als gedacht. Insgesamt, denkt Gertrud zufrieden, hatte ich doch großes Glück.